Corona und meine Art zu leben sind nicht kompatibel. Ich bin gerne unterwegs und am liebsten von Menschen umgeben. Eine gewisse Portion Stress gehört zu mir, sie macht mich lebendig. Ich bin normalerweise über Wochen hinweg ausgebucht, reise an den Wochenenden von hier nach dort. Ständig on Tour.
Mein Kalender ist jetzt leer
Nun ist alles anders: Konferenzen, Events, Reisen – das alles ist bis auf weiteres untersagt. Meine Trips in den nächsten Wochen – London, Amsterdam, Paris und Budapest waren bereits gebucht – kann ich vergessen. Und was noch schwerer für mich ist: Ich kann auch keine neuen Pläne schmieden. Denn langfristige Planungen passen nicht in diese Zeit. Als zu erahnen war, was in den kommenden Wochen auf uns zukommt, habe ich Event für Event in meinem Kalender ausradiert. Er ist jetzt leer und bleibt es vorerst auch. Die Welt lebt von Tag zu Tag. Niemand weiß schließlich, wann wieder sowas wie Normalität einkehrt. Keine leichte Zeit, für einen Planungs-Freak wie mich.
Der Frühling 2020 ist wohl für die wenigsten eine leichte Zeit. Die Corona-Pandemie ist die erste Krise, die ich bewusst erlebe. Angela Merkel nannte sie gar die „größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Jeden Abend sitze ich vor der Tagesschau und frage mich immer wieder kopfschüttelnd, ob ich das alles gerade wirklich erlebe. Ausgangssperren, Geschäfte schließen, Kranke und Tote auf allen Kontinenten der Erde.
Ziemlich viele Sorgen
Ich sorge mich. Ich sorge mich um meine Familie, ältere Angehörige und Freunde mit Vorerkrankungen. Ich sorge mich um die Jobs meiner Lieben, um die Wirtschaft auf der ganzen Welt. Ja, ich sorge mich auch um meine eigene berufliche Zukunft. Denn die Corona-Krise trifft die sowieso schon schwächelnde Medienbranche mit voller Wucht. Keine guten Aussichten für jemanden, der im Herbst mit abgeschlossenem Volontariat in die große weite Medienwelt entlassen wird.
Die Bilder im Netz und in den Nachrichten lassen mich mit einem mulmigen Gefühl zurück. Ich träume schlecht. Tag und Nacht kreisen meine Gedanken um diese Krise, die gerade erst begonnen hat. Dabei weiß ich: All diese Sorgen bringen nichts. Es gilt, positiv und optimistisch nach vorne zu blicken. Denn wir können nicht kontrollieren, was geschieht. Aber wir können bestimmen, wie wir damit umgehen.
Ziemlich viel Gutes
Ich konzentriere mich also auf das, was gut ist: Zwar arbeite ich nach wie vor jeden Tag Vollzeit, allerdings im Home Office. Das bedeutet, dass ich keine Zeit mehr beim Bahnfahren totschlage. Zuhause arbeite ich außerdem schneller und produktiver. Somit bleibt viel Zeit für mich und Dinge, die mir wichtig sind. Ja, Corona hat mir Zeit geschenkt. Und wie kostbar dieses besondere Geschenk ist, weiß ich nur zu gut. So viel gibt es zu tun, wenn die Welt plötzlich still steht. Wie oft habe ich mir gewünscht, morgens noch in Ruhe Yoga machen zu können? Wie oft habe ich mir gewünscht, in der Mittagspause joggen zu gehen? Oder ein Buch in der Sonne zu lesen? All das tue ich jetzt und ich spüre, wie gut es mir tut.
Statt Blazer und Absatzschuhen, trage ich Jogginghose und keinen BH. Meine Wimpern haben bereits vergessen, wie es sich anfühlt, getuscht zu werden. Ich widme mich Projekten, die ich immer hinten angestellt habe. Zum Beispiel ganz in Ruhe Blogtexte schreiben oder Videos drehen:
Ja, ich verbringe gerade viel und gerne Zeit am Smartphone. In den sozialen Medien lasse ich mich von kreativen Menschen inspirieren und ablenken. Ich sehe, dass es neben all den Vollidioten, die gerade unbedingt raus gehen müssen, auch ganz viele großartige Menschen gibt, die zu Hause bleiben und andere ebenfalls dazu aufrufen. Eine Welle der Solidarität! Das macht mir Mut.
Meine kleine Anti-Corona-Einheit
Abends nehme ich an internationalen Online-Events teil, tagsüber hin und wieder an einem der zahlreichen Online-Fitnesskurse. Es gibt mir Kraft zu sehen, dass ich mit meinen Sorgen und Gedanken nicht alleine bin. Ich nehme mir Zeit für FaceTime-Dates mit Freundinnen und habe neulich fast eine Stunde lang mit meinem Großvater telefoniert. Egal, mit wem ich spreche oder schreibe – ob mit Geschäftspartnern oder im Privaten – immer wieder fällt der Satz: „Passen Sie auf sich auf!“ Diese ehrliche Fürsorge rührt mich. Wir alle sind weit voneinander entfernt und doch fühle ich mich meinen Mitmenschen so nah wie selten zuvor.
Und ich spüre echte Nähe. Um während diesen schwierigen Wochen nicht alleine in meinem mini-kleinen Berliner Apartment zu sitzen, bin ich vorübergehend zu meinem Freund gezogen, der im gleichen Haus wie seine Eltern lebt. Wir vier bilden eine kleine Anti-Corona-Einheit. Niemand von uns hatte in den letzten zehn Tagen physischen Kontakt zu irgendwem anderen. Wir essen, wir spazieren, wir diskutieren miteinander. Die Krise schweißt uns zusammen.
Die Sache mit der Dankbarkeit
Ich weiß, wie dankbar ich für diese Gemeinschaft, meine zweite Familie, sein kann. Wie viele Menschen wünschten sich gerade nichts sehnlicher, als der Einsamkeit endlich entfliehen zu können? Was würden sie tun für eine Umarmung, wie ich sie jeden Tag bekomme? Weil ich weiß, wie besonders diese Nähe ist, genieße ich sie umso mehr.
Überhaupt spüre ich immer häufiger tiefe Dankbarkeit in Momenten, die vor wenigen Wochen noch selbstverständlich zu sein schienen. Neulich im Supermarkt zum Beispiel. Vor dem Einkaufen hatte ich im Netz gespenstisch leere Regale und Prügeleien um Klopapier gesehen. Ich rechnete also mit dem Schlimmsten. Stattdessen betrat ich den Laden und sah Obst, Gemüse, Joghurt, Brot und Schokolade. Alles, was ich benötigte und noch viel mehr. Ich freute mich so sehr über dieses reichhaltige Angebot, die gefüllten Regale. Dabei war es eigentlich genau der Anblick, den ich seit meiner Geburt aus jedem deutschen Supermarkt gewöhnt bin. Warum, frage ich mich, habe ich mich nicht schon viel früher so sehr über diese riesige Auswahl gefreut? Warum habe ich es bisher als selbstverständlich angesehen, einen solchen Supermarkt zu betreten? Das hat mir erst Corona beigebracht.
Die Krise macht mich dankbar für vieles. Für politische Stabilität in schwierigen Zeiten. Für ein Gesundheitssystem, das durchaus verbesserungs- aber auch nach wie vor leistungsfähig ist. Für unsere Freiheit, die momentan zwar etwas eingeschränkt und doch nach wie vor weitaus größer ist als in vielen anderen Ländern dieser Erde. Für Vogelzwitschern, Sonnenschein und ein Dach über dem Kopf. Das alles klingt schrecklich kitschig und doch ist es wahr. Corona erschüttert uns in unserer Wohlstandsarroganz. Das Virus bringt uns auf den Boden der Tatsachen und führt uns vor Augen, was im Leben wirklich zählt. Vielleicht habe ich das mal gebraucht.
Was bleibt nach der Krise?
Machen wir uns nichts vor: Ich werde früher oder später wieder gestresst in den Supermarkt hetzen und vergessen, dankbar für gefüllte Regale zu sein. Ziemlich sicher werde ich nicht all das beherzigen, was ich mir jetzt vornehme. Und doch hoffe ich, dass nach der Krise einiges bleibt. In Zukunft will ich zu meinen Freundinnen in Frankreich, Österreich und den USA reisen und ganz bewusst wahrnehmen, wie großartig es ist, dass Grenzen uns nicht hindern. Ich will nicht mehr so viel planen, weil ich verstanden habe, dass ich im Leben nicht alles planen kann. Ich will mich ernsthaft dafür interessieren, wie es Anderen geht und mein „Passen Sie auf sich auf!“ auch so meinen. Ich will in wogenden Menschenmengen zu Berliner Beats tanzen und vor Freude schreien, weil wir alle einander nah sein können.
Der italienische Soziologe Franco Ferrarotti glaubt, „wenn die Krise vorbei ist, werden wir eine enorme Wiederkehr von Lebensfreude und Lust am Wiederaufbau erleben. Ähnlich wie am Ende des Krieges wird es in ganz Europa eine unglaubliche Explosion an Lebensfreude geben.“ Ich finde das eine fantastische Vorstellung und freue mich so sehr auf diese Lebensfreude-Explosion, dass sie mir schon jetzt ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Nein, es ist nicht gut, dass es Corona gibt. Natürlich wünschte ich, es gäbe dieses verdammte Virus nicht. Ich wünschte, ich würde nächste Woche wie geplant nach Amsterdam reisen, mein so geliebtes Leben sorgenfrei weiterleben und nicht ständig darüber nachdenken, welche Türklinken ich bedenkenlos anfassen kann. Aber so ist es eben nicht. Und deshalb konzentriere ich mich auf das, was gut ist. Bin dankbar für das, was ich habe. Und freue mich auf das, was kommt.
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